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Was verändert sich und was bleibt gleich?

Unter der Überschrift „Menschen des 21. Jahrhunderts“ zeigt Blogger Gunnar Hämmerle Streetstylefotografie im Düsseldorfer NRW Forum und zitiert damit den Fotografen August Sander (1876 bis 1964). Seine in den 1920er Jahren entstandene Bilderserie trug den ähnlichen Titel „Menschen des 20. Jahrhunderts“, ihr ist eine Ausstellung im Luxemburger Centre National de l’Audiovisuel gewidmet. Auf den ersten Blick sind die Bilder der Fotografen verschieden. Dass fast zeitgleich beiden Ausstellungen gewidmet sind, ist der Grund, mich auf die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen Sanders Sachlichkeit und moderner Modeblogfotografie zu machen.

Darstellung des Alltäglichen der 1920er

August Sander war in den 1920ern der Mitbegründer einer neuen Stilrichtung, der sachlichen Darstellung, genannt „Neue Sachlichkeit“. Hatten sich bis dahin oft wohlhabende Leute im Studio in aufwendiger Robe porträtieren lassen, war auf Sanders Bildern ein Querschnitt der Bevölkerung zu sehen: modebewusste Frauen, Arbeiter beim Schleppen von Ziegeln oder blinde Kinder, auf einer Parkbank beim Lernen. Der Fotograf zeigte Menschen in ihrer typischen Kleidung und in ihrer alltäglichen Umgebung. Dabei verzichtete Sander nicht völlig auf Inszenierung blieb aber in seiner Darstellung neutral und ließ seinen Modellen viel Raum für individuelle Eigenwilligkeit.

Jagd auf modische Marotten

Gerade Letzteres zieht Streetstyleblogger besonders an. Sie sind auf der Suche nach Außergewöhnlichem. Gunnar Hämmerle spricht auf der Straße auffällig gekleidete Menschen an, um sie für seinen Blog Styleclicker zu fotografieren. Seine Porträts legen den Wunsch der Dargestellten offen, keiner Bevölkerungsgruppe zuordenbar zu sein. Große Gemeinsamkeit moderner Streetstyleblogger und August Sanders ist der Ort der Inszenierung, die Straße. Hier verlassen sich Gunnar Hämmerle und seine Kollegen auf den Zufall, der ihnen spannende Motive verschafft oder auch nicht. Im Gegensatz dazu ging Sander bei seiner Arbeit methodisch vor. Fast mutet die Auswahl seiner Modelle an wie die Arbeit eines Statistikers, weil er seine Mitmenschen in Berufs- und Bevölkerungsgruppen einteilte und daraus exemplarisch Beispiele zeigte. Anspruch Sanders war, zu dokumentieren und nicht zu werten, was sich auch in der stilistischen Umsetzung seiner Bilder zeigte.

Sachlichkeit bei der Begegnung mit anderen

Mit derselben Wertfreiheit blicken Streetstyleblogger auf modische Marotten ihrer Porträtierten. Oft mit der Gefahr, sich lächerlich zu machen, zeigen die Modelle erstaunliche Experimentierfreude. Vielleicht hätten wir hinter dem Rücken des jungen Mannes über seine Legokette gelacht, ein dokumentarisches Foto schafft Distanz und lässt uns neutraler und offener ihm gegenübertreten. In diesem Sinne greift moderne Streetstylefotografie die „Neue Sachlichkeit“ von August Sander und seinen Zeitgenossen auf und setzt sie fort. Genauso wie Sander, rückt Gunnar Hämmerle Menschen in den Fokus, zu denen wir vielleicht keinen Kontakt gesucht hätten, und weist uns auf ihre Besonderheit hin.

Ausstellungen

Wer beide Ausstellungen besuchen möchte, sollte reiselustig sein:

August Sander – Ikonen aus dem Porträtwerk

29. Juni bis 26. September 2010 im Centre National de l’Audiovisuel in Luxemburg

Styleklicker City – Menschen des 21. Jahrhunderts

25. Juli bis nur noch 8. August 2010 im NRW Forum in Düsseldorf

Fotos: Oben – Zirkusartistin, 1926–1932 © Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – August Sander Archiv, Köln; VG Bild-Kunst, Bonn, 2010. Unten – Lego Designs part II – London, Westminster University, 26. März 2009, Styleclicker City © Gunnar Hämmerle